• Claudia Starke

    Kapitel 9 - Menschenfamilie

    „Papa, haben wir noch gelben Tonkarton?“, tönte es aus dem Korridor.
    „Ja, in dem Sideboard im Korridor. Unterste Schublade“, antwortete Malte, der gebannt auf den Bildschirm des Fernsehers starrte, gefangen von einem Krimi, der im verschneiten Minneapolis spielte.
    „Hilfst du mir mal?“
    „Gleich, Mausekind.“ Malte stoppte die Wiedergabe und fand seinen Sohn auf dem Boden vor der geöffneten Schublade.
    „Gelb ist nur noch ein Blatt. Meinst du, ich kann auch andere Farben nehmen?“ Max hielt Bögen in Orange, Braun und Weiß in die Höhe.
    „Wenn du mir sagst, wofür du sie brauchst.“
    Der Vierjährige neigte den Kopf nach links und sah seinen Vater an. „Na, für die Sterne. Wir wollen doch dekorieren.“
    „De-ko-rie-ren.“ Malte sprach das Wort betont langsam und überlegte währenddessen fieberhaft, zu welcher Dekoration er seine Mithilfe versprochen hatte.
    „Papa, jetzt sag nicht, du hast schon wieder alles vergessen.“ Max sprang auf, warf den Tonkarton zurück in die Schublade, kam zu Malte und nahm dessen Gesicht in seine kleinen Hände. „Wir wollen Weihnachten zurückholen. Wir haben dem Christkind geschrieben, den Brief eingeworfen und gleich wollen wir den Weihnachtskarton aus dem Keller holen.“
    Malte schlug sich vor die Stirn. Wie konnte es sein, dass er das schon wieder vergessen hatte? Max am Küchentisch, wie er erst „Liebes Christkind“ von dem Zettel abmalte, den Malte ihm geschrieben hatte, und dann in vielen kleinen Bildern dem Christkind mitteilte, dass niemand in der Stadt Weihnachten feiern würde, weil es weg war. Gestohlen, verloren, jedenfalls getilgt aus der Erinnerung der Menschen. Und nun war es selbst ihm eine Stunde später bereits wieder abhandengekommen.
    „Du hast recht. Jetzt weiß ich es wieder: Wir wollten die Fenster schmücken.“ Er gab seinem Sohn einen Kuss auf die Stirn. „Mach du weiter mit den Sternen, ich hole den Karton. Und nimm ruhig jede Farbe, die du finden kannst. Weihnachtssterne können gar nicht bunt genug sein.“
    Wenig später holte er den großen Karton, der ganz oben auf dem Kellerregal stand. Auch wenn er nicht mehr genau wusste, was alles drin sein würde, so vertraute er darauf, dass das Wort „Weihnachtsdeko“, das auf der Vorderseite in großen schwarzen Buchstaben geschrieben stand, Hinweis genug war.
    Während Max Stern um Stern mit seiner Bastelschere ausschnitt, dabei seine Zungenspitze unentwegt vom linken in den rechten Mundwinkel wandern ließ, entwirrte Malte Lichterketten, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, befestigte Saugnapfhaken an den Fensterscheiben in Küche, Kinderzimmer und Wohnzimmer, und umrahmte jedes Fenster mit je einer der Lichterketten. Im Karton gab es auch drei Mehrfachsteckdosenleisten, mit denen er den benötigten Strom aufs Fensterbrett bringen konnte. Des Weiteren fand er in dem Karton auch Fensterbilder aus schwarzem Tonkarton und buntem Pergamentpapier Davon habe ich jedes Jahr eins gebastelt! und Leuchtsterne, sowie einen Lichterbogen und einen Hirsch, der eine kleine rote Glühbirne als Nase hatte. Während er noch die Fensterbilder durchblätterte, kam Max mit einer Handvoll Tonkartonsterne. Rosa, Blau, Gelb, Orange und Weiß waren als Farben vertreten, die Zacken waren krumm und schief und der Vierjährige strahlte übers ganze Gesicht.
    „Da, Papa“, sagte er und drückte die Sterne Malte in die Hand.
    „Das sind wirklich großartige Weihnachtssterne“, sagte Malte und holte die Tesafilmrolle. „Dann mal los.“
    Eine Stunde später legte Max an allen drei Steckdosenleisten den roten Schalter um und ließ die Fenster leuchten.
    Als Malte seinen Sohn kurz darauf ins Bett brachte, kuschelte dieser sich in sein Kissen und murmelte: „Jetzt ist doch noch bald Weihnachten.“
    Malte strich ihm über den blonden Schopf und fragte sich, ob er mit Sylvie überhaupt Weihnachten hätte vergessen können. Er sah hinüber zum Fenster. Dort hing Sylvies Lieblingsfensterbild: Ein Elch mit Kerzen auf dem Geweih, an dem auch noch zahlreiche Sterne hingen. Sie hatte es damals gebastelt, als sie mit Max schwanger war. Es sollte das erste für ihren Sohn werden und ist das letzte geblieben. Er schluckte. Ihm war nicht nur Weihnachten abhandengekommen.

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    Autorin: @Claudia-Starke

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  • Claudia Starke

    Kapitel 1 - Menschenfamilie

    Der erste Tag im Dezember brachte frühmorgens sieben Schneeflocken mit sich, die aus einem sternklaren Himmel herabrieselten. Sie stammten vermutlich von dem kleinen federweißen Wölkchen, das sich auf dem Weg zum noch vollen Mond rasch Erleichterung verschafft hatte.
    Die sieben Flocken tanzten im Laternenlicht und lösten bei Malte ein diffuses Gefühl der Freude aus, das vorüberging mit dem Schmelzen des Schnees auf dem Bürgersteig. Es war viel zu warm für … Malte hielt inne, versuchte, den Gedanken zu greifen, festzuhalten, doch er war längst fort und ließ den jungen Mann mit dem Gefühl zurück, etwas sehr Wichtiges verloren zu haben.
    Es war ein Dienstag, er hatte heute Home-Office und noch circa eine halbe Stunde Zeit für Kaffee und Zeitung.
    Dieses Mal hatte er sogar noch ein paar Minuten länger seine Ruhe, denn sein Sohn Max kam schweigend in die Küche, drehte eine Runde, während der er die Wände und Arbeitsflächen absuchte. Scheinbar war dem kein Erfolg beschieden, denn der Vierjährige setzte zu einer zweiten Runde an, nur durchstöberte er dieses Mal die unteren Schränke. Schließlich setzte er sich Malte gegenüber, verschränkte die Arme und schob die Unterlippe vor.
    »Was ist los mit dir?« Malte legte die Zeitung zur Seite und musterte seinen Sohn. »So still kenn’ ich dich gar nicht.«
    »Ich will meine Schokolade«, antwortete Max und schob die Unterlippe noch ein Stück weiter vor.
    »Schokolade zum Frühstück? Jetzt sag nicht, du …«
    »Es ist der erste Tag und will meinen Azvenzkalender. Ich hab schon keine Spekekulius zum Geburtstag bekommen. Und wir haben auch keinen Azvenzkranz.« Der Vierjährige sah auf, in seinen Augen schimmerten Tränen. »Aber wir kriegen einen Tannebaum, oder? Und der Nickelaus und das Chriskind kommen auf jeden Fall, ja? Wie jedes Jahr? Sag ‘Ja’ Papa, ich will auch ganz brav sein.«
    Malte schluckte. Max’ Worte ließen ihn den Kopf schütteln und rührten ihn gleichzeitig an. Er wusste nicht, wovon sein Sohn sprach, all diese Worte hatte er nie zuvor gehört. Oder? Was hattest du denn heute Morgen? Ich hatte ’ne Glocke. Und was sollten sie mit einem Tannenbaum? Sie hatten noch nicht einmal einen Garten. Wir sagen euch an den lieben Advent, sehet die erste Kerze brennt … Mit Zeigefinger und Daumen massierte er die Nasenwurzel. Vorhin erst der Schnee und jetzt Max. Er atmete tief durch.
    »Max, was sind«, wie hatte er gesagt? Speke – Speku -, »Spekulatius?« Malte wusste, er sprach es nicht so aus wie sein Sohn, aber dieses Wort fühlte sich richtig an. Nicht nur das, es weckte Sehnsucht in ihm, er schmeckte Zimt und Anis und Kardamom, es roch nach Nelken und Orangen und Tanne und Kerzen – er riss jäh die Augen auf, hatte gar nicht bemerkt, dass er sie geschlossen hatte.
    Sein Sohn krauste die Nase. »Na, die leckeren Kekse, die ihr mir immer zu meinem Geburtstag schenkt. Damit fängt Weihnachten an.«
    Malte schlug sich vor die Stirn. Weihnachten! Wie hatte er nur Weihnachten vergessen können? Was war Weihnachten? Er schüttelte den Kopf, in dem die Gedanken durcheinanderpurzelten, fischte vereinzelte Bilder aus seinen Erinnerungen, Weihnachtston, Weihnachtsbaum, Weihnachtsduft in jedem Raum, die Weihnachtsmütze von Onkel Egon, die Nikolaustüte, die in seinen Gummistiefeln steckte. Der Stuhl kippte hinter ihm mit Getöse zu Boden, als Malte unvermittelt aufsprang, um den Tisch rannte und seinen Sohn vom Stuhl hob.
    »Max, du bist großartig, du hast mich an Weihnachten erinnert!«, rief er und schmatzte seinem Sohn einen Kuss auf die Wange, ehe er ihn wieder absetzte.
    Max rieb seine Wange an seinem Pullover trocken. Manchmal waren Erwachsene schon komisch, aber solange er seine Geschenke bekäme, war alles gut. Und vielleicht gab es ja sogar noch einen Adventskalender.
    Malte hatte bereits Jacke und Schal in der Hand, als er noch einmal zurück in die Küche kam. »Du bist ja gar nicht fertig«, stellte er fest. »Auf, auf, mein Freund, sie warten bereits auf dich. Ziehe er sich hurtig an.«
    Max verdrehte die Augen und ging in sein Zimmer, um sich anzuziehen.
    Beim Abschied im Kindergarten hätte Malte seinen Sohn beinahe noch gefragt, hatte es dann aber doch gelassen. Irgendetwas lief gründlich schief und er wollte wenigstens seinem Sohn gegenüber den Eindruck erwecken, es im Griff zu haben.
    Stattdessen fragte er sich also durch die Stadt.
    »Was ist noch mal Weihnachten?«
    Gleichzeitig suchte er in allen Geschäften nach Spekulatius und Adventskalendern, doch er fand nirgends etwas davon. Und immer, wenn er seine Frage stellte, wurde er seltsam angeschaut, die Leute eilten kopfschüttelnd weiter oder drohten ihm mit der Polizei, wenn er sie wegen etwas, von dem sie nie zuvor gehört hatten, belästigte. ‘Neumodischer Kram’ sagten die einen, ‘Schwachsinn’ die anderen.
    Doch je mehr die Leute um ihn herum es leugneten, desto sicherer wurde Malte, dass es Weihnachten wirklich gab. Irgendwer hatte es verschwinden lassen und er wollte wissen, wer und warum. Und Max würde ihm dabei helfen.

    »Du meinst, jemand hat Weihnachten weggemacht? Wer denn? Und hast du schon dem Chriskind Bescheid gesagt?« Max sprang neben ihm her und wedelte mit den Armen. »Du musst es ihm sagen!«
    »Will ich ja, Maxi, aber – wie denn?« Malte breitete die Arme aus und zuckte mit den Achseln. Dabei sah er so übertrieben hilflos aus, dass Max laut lachte.
    »Bist du dumm, Papa?«, fragte er, immer noch kichernd. »Du musst ihm schreiben. Was denn sonst?«
    »Hilfst du mir denn dabei?«
    Max legte Malte eine Hand auf den Arm. »Klar, Papa, wirst sehen: Wir holen uns Weihnachten wieder.«

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    Autorin: @Claudia-Starke

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  • Claudia Starke

    Nachdem ich mit der ersten Folge begonnen hatte, musste ich doch erst mal die erste Staffel noch mal gucken. Jetzt hab ich die fünfte Folge der zweiten Staffel durch und wünschte, es wäre schon nächsten Freitag … :roll_eyes:

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Es scheint als hättest du die Verbindung zu Schreibnacht verloren, bitte warte während wir versuchen sie wieder aufzubauen.